Vergangene Woche wurde über zwei Bildungseinrichtungen berichtet, in denen es zu „Missbrauchsfällen“ gekommen sein soll.

Diese Formulierung entspricht der Unschuldsvermutung, und die hat so lange eingehalten zu werden, bis es eine rechtskräftige Verurteilung gibt – nur gerichtskonforme Beweise allein entkräftigen sie nicht. Es ist ja auch Sache der Gerichte, den jeweilig inkriminierten Sachverhalt einem Tatbestand zuzuordnen – und auch das ist nicht immer leicht und muss gelegentlich sogar während des Strafprozesses geändert werden. Richter:innen müssen ja auch die Menschenrechte der Beschuldigten schützen – das gehört zu ihren Gerechtigkeits-Pflichten.

Das alles erklärt zum Teil, weswegen sich so viele Aufsichtsbehörden mit ihren Schutzpflichten schwertun: Sie wollen erst ein möglichst präzises Bild der zur (internen?) Anzeige gebrachten Vermutungen gewinnen, bevor sie ihre Amtsverschwiegenheit aufgeben. Der andere Teil des Verstummens aus Schock oder Taktik, wer weiß, liegt in mangelnder Kommunikationskompetenz. Denn wenn heute auch vielfach ausbildungs- oder institutionsintern Kommunikationsseminare angeboten werden (und der – nicht immer freiwillige – Besuch nicht immer Erfolge zeitigt), fehlen den meisten Unterrichtenden einerseits die eigenen Erfahrungen im Bewältigen extrem herausfordernder Gespräche im Zwischenbereich zwischen Recht und Psychologie, und nur durch Lesen von Fachliteratur kann man höchstens Theorien vermitteln, nicht aber die Einstellungen und Stimmungen, die in Stresssituationen helfen, kühlen Kopf und eine deeskalierende Sprache zu gewinnen und zu bewahren.

Andererseits löst allein das Denken an sexuelle Grenzüberschreitungen Phantasien und Emotionen aus, und da reagieren die meisten mit den Scham- und Schuldgefühlen, die ihnen in der Kindheit suggeriert wurden – denn außer den „korrekten“ medizinischen oder juristischen Bezeichnungen bieten sich den meisten nur noch die „unanständigen“ Formulierungen an (und blumig-dichterische sind heute weitgehend unmodern geworden).

Dennoch finde ich es wichtig, statt nur von „Übergriffen“, „unsittlichen Berührungen“ oder „Penis zu fest gedrückt“ (wie im Artikel „Verdacht in Kindergruppe wurde 13 Monate vertuscht“, Salzburger Nachrichten, 17.05.2022, S. 18) die „angeblich stattgefundenen“ (Formulierung von mir) Handlungen zu konkretisieren – sonst ufern die Phantasien und Emotionen aus.

In einer meiner Supervisionen berichtete eine Kollegin von einem Fall, in dem zwei kleine Buben von den Besuchen bei der väterlichen Großmutter immer mit wundgeriebenen Penissen heimkamen. Auf Befragen der Mutter berichteten die beiden, dass diese immer ihre Vorhaut intensiv vor- und zurückgeschoben habe. Als die Mutter daraufhin den Vater ersuchte, er möge seiner Mutter sagen, sie solle die Genitalien der Enkel in Ruhe lassen, antwortet der verwundert: „Warum? Bei mir hat sie das ja auch immer gemacht!“ In älteren Säuglingspflegebüchern wurde das übrigens auch zwecks Lockerung einer allfälligen Vorhautverengung empfohlen. Aber soll, muss das sein? Ich meine: Wenn darüber nicht diskutiert wird – werden darf – wird es immer missbräuchliche Praktiken geben.

Als ich in den späten 1980er Jahren in der gemeinsam mit DAS Werner Neubauer, dem damaligen Leiter der Ehe- und Familienberatung der Stadt Wien, gegründeten 1. Wiener Sexualberatungsstelle arbeitete, kam einmal ein Vater zu uns und fragte, ob es „normal“ sei, dass seine Frau den halbjährigen Sohn nach der abendlichen Reinigung mehrfach auf den Penis küsse, denn „bei mir tut sie das nie!“ Ist das nun mütterliche Zärtlichkeit – oder ein sexueller Übergriff?

In einem psychosozialen Beratungsgespräch können solche Fragen ausgelotet werden – aber dazu sollten alle, die in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen arbeiten und sich die nötige Gelassenheit zutrauen, ausgebildet werden: Damit sie „abstinent“, d. h. ohne zu werten und ohne Parteilichkeit den Prozess der Entscheidungsfindung und Verantwortung begleiten können. Und im Sinne von Transparenz immer zu zweit (und der oder die Co könnte dann aus dem Bereich der einschlägig Studierenden/ Forschenden stammen).