„53 Anrufe um 2 h nachts aus unerwiderter Liebe“ titelt der KURIER (15.01., S. 21) zu einem mit Diversion beendeten Gerichtsverfahren, Untertitel „35jähriger Stalker trieb ,Angebetete‘ zur Verzweiflung“ (53 Anrufe um zwei Uhr nachts aus unerwiderter Liebe | kurier.at).
Mit Liebe hat Stalking aber schon gar nichts zu tun – es ist reine Gewaltausübung, und die zeigt sich nach dem US-amerikanischen Sicherheitsberater Gavin de Becker (Buch „Mut zur Angst“, als Taschenbuch „Vertraue deiner Angst“ – Pflichtbuch!) immer bereits daran, dass ein „Nein!“ – oder eine andere deklarierte (!) Grenzsetzung – nicht respektiert wird.
Wer liebt, will dem / der Geliebten nicht schaden und ist daher fürsorglich und verzichtet auf Willensdurchsetzung, auch wenn es noch so weh tut (was nicht heißt, dass man das eigene Empfinden nicht kundtun darf – aber einmal genügt!). Auch wenn Fürsorglichkeit nicht unbedingt dem traditionellen militaristischen Männerbild entspricht – obwohl z. B. Polizisten genau diese Fürsorglichkeit immer wieder unter Beweis stellen, wenn sie sich um verletzte, verlassene Personen kümmern! – wenn wirklich geliebt wird, zeigt sie sich unvereinbar mit Gewalt. Andernfalls liegen hinter der Gewalt kleinkindliche Abhängigkeit, Kontrollzwänge, Besitzgier, narzisstische oder finanzielle Interessen und anderes mehr, deren Entstehungsgeschichte sich meist auf traumatische Ereignisse in den ersten zehn, seltener zwanzig Lebensjahren zurückführbar zeigt. (Mehr dazu in meinem Buch „Lieben!“ : Lieben! – Kremayr & Scheriau (kremayr-scheriau.at)
Was mich an dem zitierten Artikel aber noch stört, ist erstens der Hinweis, dass der 35jährige Mann „dreifacher Vater“ und die 23jährige Frau „ebenfalls bereits Mutter“ sei: Was hat das bitte mit der Straftat zu tun? Und zweitens finde ich die Formulierung dringend kritikwürdig, dass „seine Freundlichkeit bald in Jähzorn umgeschlagen“ hat. Der Alltagsbegriff Jähzorn – klinische Diagnose: mangelnde Impulskontrolle – zeigt sich als einmaliges Reagieren in einer einmaligen Situation, wenn er sich zu Charakter verfestigt hat, dann als wiederholtes Reaktionsmuster in jeweils einmaligen Situationen, Betonung immer auf „Reagieren“ – nicht „Agieren“.
Darüber hinaus stört mich aber noch mehr, dass, wie der Berichterstattung über die Selbsttötung mit Einschluss der 6jährigen Tochter (Salzburger Nachrichten, 13.01.2022, S. 10) eines bereits vorher wegen Todesdrohungen amtsbekannt gewordenen Vaters (KURIER, 13.01.2022, S. 22) zu entnehmen, damals keine psychiatrische Untersuchung veranlasst worden war – obwohl auch in Zeiten digitaler Amts-Vernetzungen bekannt hätte sein müssen, dass der 38jährige seine Ex-Familie intensiv gestalkt hatte (Vorgeschichte der Tat – Mit Kind auf Gleisen: Familie jahrelang gestalkt | krone.at).
Stalking, egal ob von nicht persönlich bekannten „Promis“ oder „begehrten“ oder „gehassten“ Personen sollte immer einer psychiatrischen Begutachtung unterzogen werden – es könnte immer auch eine behandlungsnötige psychische oder organische Erkrankung vorliegen. (Deswegen gehören die Überreste des Suizidanten auf der Sollenauer Bahnstrecke unbedingt obduziert!)
Aus dem Bereich der engagierten Frauen der Interventionsstellen gegen Gewalt wird seit Jahren eine enge Vernetzung mit den ebenso mit häuslicher Gewalt befassten Dienststellen gefordert. In Zeiten der Digitalisierung müsste das doch auf schnellstem Weg möglich sein; wir themenspezifisch Arbeitende stehen ja alle unter Verschwiegenheitspflicht, aber die gehört gerade in diesem Zwischenbereich von Recht und Seelischem besonders geschult, und deren Grenzen müssten in diesen Fällen gemeinsam präzisiert werden.
Stalking und andere wesentliche Basics dazu habe ich in meiner jahrelangen Lehrveranstaltung am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien besonders thematisiert und in meinem darauf gegründeten Buch „Mit Recht und Seele – Angewandte Sozialpsychologie für JuristInnen. Ein Beitrag zu Gewaltprävention und Salutogenese“, aaptos Verlag 2021, festgehalten. Das Buch kann über www.aaptos.at oder direkt bei mir bestellt werden.