70 % der Schülerschaft einer Meidlinger Volksschule wären bereits übergewichtig, mahnt der Ernährungswissenschaftler Kurt Widhalm (https://wien.orf.at/stories/3028871/) und fordert deshalb 30 Minuten Sport pro Tag. Das ist zwar gut gemeint, verstärkt aber nur das Problem.
Der zutiefst menschliche und leider auf tragische Weise bei einem Brand ums Leben gekommene Wiener Sozialpsychiater und Psychoanalytiker Hans Strotzka (1917–1994) betonte bereits in den 1980er Jahren, dass Bewegungsmangel bei Kindern – sofern genetische Faktoren ausgeschlossen werden können – ein „neurotisches Symptom“ sei. (Neurotisch bedeutet, dass ein Symptom auf Verschaltungsmustern der Nervenzellen beruht.) Alles Lebendige bewegt sich, mal schneller, mal langsamer und meist unkontrolliert – denn bis sich ein Kleinkind gezielt und beherrscht bewegen kann – aber auch darf! – dauert es üblicherweise ungefähr zwei Jahre.
Das „Dürfen“ ist deswegen so wichtig, weil Dauereinschränkung – weil die Wohnung zu klein, zu hellhörig, zu Grünflächen-fern ist, Eltern, Mitbewohner oder Nachbarn zu lärmempfindlich / genervt sind (ein Teufelskreis à la zuerst Henne oder Ei?) – oder weil der neue Erdenbewohner angeschrien, beschimpft, bestraft wird, was zu körperlicher Zurückhaltung führt (d. h. man verkleinert instinktiv die Angriffsfläche des Körpers), für das Kind (oder auch den erwachsenen Adressaten dieser Botschaften) im Klartext bedeutet: Du darfst nicht so sein wie du (augenblicklich) bist.
Oft heißt es ja auch direkt: „Nimm dich zusammen!“ und das ist ein quasi militärischer Befehl. (Die Gesundheit fördernde Alternative würde lauten: Ich bin im Augenblick nicht belastbar – oder ich habe Angst vor Wickeln mit den Nachbarn etc. – und BITTE dich, ruhiger zu sein.) Bei militärischem Drill trauen sich die „Braven“ dann nichts mehr, die „schlimmen“ hingegen zahlen für ihren Wagemut immer wieder den kulturell gewohnten Preis.
Sich zusammen nehmen, still zu halten bedeutet sich tot zu stellen und führt zu dem, was wir grob gesprochen Depression nennen: zu Energieverlust. Oder anders gesagt: Sie bekommen Stress und Stress „frisst“ Zucker. Die schnellste Möglichkeiten, den abgesunkenen Zuckerspiegel wieder aufzubauen bietet Schokolade und eine andere Süßigkeit (oder auch kohlehydratreiche Speise) und – Alkohol. Beides konsumiert man nicht während man läuft oder Sport betreibt, sondern meist still für sich. Beides beruhigt (kurzfristig) – und beides macht dick. Es verstärkt die Schutzwand gegenüber Kritikern – und die kritisieren, dass man dick ist und/oder sich nicht ausreichend körperlich betätigt. In depressiven Stimmungen schafft man es aber nicht, Sport zu betreiben (und meist auch nicht, sich oder die Wohnung sauber zu halten oder das Gewand zu wechseln …) – das geht nur zu Beginn und auch nur, wenn jemand da ist, der einen dabei begleitet, egal ob Freund oder Selbsthilfegruppe; es geht ja um Energiezuwendung, weil man selbst kaum mehr welche hat. (Außerdem ist seit einigen Jahren entdeckt worden, dass in den Speckschichten unter der Haut Stresshormonausschüttungen abgelagert sind.)
Und man (d. h. „die Sozialforschung“) weiß heute auch, dass armutsgefährdete Menschen aus genau den Gründen, aber auch, weil diese Nahrungsmittel die billigsten und sättigendsten sind, in diese Falle tappen. (Und die Nahrungsmittel-Industrie weiß das auch!)
Wenn man tiefenpsychologisch oder personzentriert basiert psychotherapeutisch mit übergewichtigen Menschen arbeitet, findet man gehäuft erlittene Gewalt – Kommunikationsverweigerung (egal aus welchen wie z. B. verständlichen Gründen wie bei selbst depressiven Bezugspersonen), Demütigungen, Bullying (d. i. Mobbing in der Schule). Solche Kinder sind besonders oft Zielscheibe der Gewalt ihrer Mitschüler – weil sie sich mangels Kampftraining nicht wehren können (oder trauen weil sie Angst vor ihren Erzieher*innen haben) – aber ebenso auch Zielobjekt von sexueller Ausbeutung, weil diese Kinder für jede Form von Zuwendung unendlich dankbar sind und die darin verborgene Ausbeutung zu spät erkennen oder auch gar nicht erkennen können, weil sie noch nicht wissen, was das ist und woran man es erkennt.
Die Forderung nach mehr Sport führt nur zu noch mehr Ausgrenzung der „Dicken“. Wichtiger wäre, Menschen, die diesem Teufelskreis als Jugendliche aus eigener Kraft (d. h. ohne Operation) erfolgreich entkommen sind und das auch bekennen wie etwa Alfons Haider, als Experten in Schulen einzuladen – und warmherzige Psychiater, die die hormonellen Wechselspiele erklären und wie man sich autosuggestiv dem eigenen Ideal annähern kann.