Eine Zeremonie ist eine nach vorgegebenem Ritus ablaufende feierliche Handlung, die oft Symbolcharakter hat, heißt es in Wikipedia. So spekuliert etwa die „Sissi“-Trilogie von Hubert Marischka mit den verletzenden Auswirkungen des Spanischen Hofzeremoniells auf die Filmfigur der jungen Kaiserin von Österreich auf Mitleiden und Solidarität bei weiblichen Kinobesuchern.
Nun wurde Ursula von der Leyen, Ärztin, 62, Präsidentin der EU-Kommission, bei ihrem Besuch, gemeinsam mit Charles Michel, Brüsseler Rechtsanwalt, 45, EU-Ratspräsident, in Ankara mit Hilfe des Zeremoniells auf einen nachgeordneten Rang verwiesen – wie man es vielleicht zwar dem orientalischen Frauenrollenbild im Privaten konzedieren könnte, nicht aber der politischen Funktion, in der eine Frau auftritt, ob es einem passt oder nicht. (Wurde Ursula von der Leyen in der Türkei gedemütigt? (faz.net)) Damit hat die Türkei bzw. ihr Präsident Erdogan, 67, erlernter Beruf umstritten (44 Ehrentitel aber kein Diplom?: Erdogan soll Uni-Abschluss vortäuschen – n-tv.de (n-tv.de) ), wieder einmal bewiesen, dass sie nicht EU-reif ist.
Allerdings erhebt sich jetzt auch die Frage, ob Charles Michel für sein Präsidentenamt reif genug ist. Würde er wirklich europäische Werte vertreten, hätte er die Provokation blitzschnell erkennen und Dr.in Von der Leyen seinen Sitz anbieten – oder einen solchen zusätzlichen in gleichem Abstand verlangen müssen. (Denn auch mit vergrößerten Distanzen lässt sich ausdrücken, was man von jemandem hält.)
Frauen anzubieten, auf angeblich bequemeren Fauteuils oder Sofas Platz zu nehmen, ist eine getarnte List, von höheren Sitzgelegenheiten auf sie herabsehen zu können. Die US-amerikanische Kulturhistorikerin Camille Paglia, 74, verließ einst die ORF-Talkshow Club II, weil man ihr nicht den erbetenen höheren Sitz zur Verfügung stellte. Sie wollte nicht in einem Club-Fauteuil „versinken“ – und was bequem ist, entscheidet immer noch, wer es ausprobiert.
Ich hatte früher den Effekt schon 1979 entdeckt: Da sprach ich als Chefin des von mir aufgebauten Kommunikationszentrums Club Bassena mit einer Kollegin beim damaligen Bundessekretär der Österreichischen Kinderfreunde vor und er bat uns, auf einem Sofa Platz zu nehmen, vor dem ein fast gleich großer Couchtisch stand. Er selbst setzte sich später dazu – auf einen Sessel an der Schmalseite des Tisches – den gegenüber liegenden ließ er frei, der stieß nämlich an die Wand und hatte gleich daneben die Tür ins Sekretärinnenzimmer. Falle! Er hatte den vollen Bewegungsraum rund und hinter sich, wir waren fast eingeklemmt. Von diesem „goldenen Platz“ hatte ich in der Gruppendynamikausbildung nie zu hören bekommen – ihn aber instinktiv „erfühlt“. Er vermutlich auch. Daher beobachtete ich seitdem genau, wie sich Menschen im Raum verteilen und begann, mich in Proxemik (Proxemik – Lexikon der Neurowissenschaft (spektrum.de)) fortzubilden (und unterrichte das auch).
Wer für diesen Fauxpas zuständig war, wird sich vermutlich kaum nachweisen lassen. (Kein Sessel für Von der Leyen: EU-Ratschef Michel entschuldigt sich | kurier.at ) Frauen ist jedenfalls zu raten, im Sinne der Förderung der eigenen Selbstachtung, auf solche Überlegenheits-Demonstrationen zu achten und sie zu korrigieren – besonders wenn man äußerlich eine zarte kleine Frau ist: Es gibt immer Möglichkeiten nachzurücken, bzw. durch Vorrücken an die Kante der Sitzgelegenheit zu verdeutlichen, dass man bereit ist, jederzeit aufzustehen (im Doppelsinn des Wortes!).