Im Masterstudium der evangelischen Fachtheologie stellte uns der Professor zu Ende des Augustinus-Seminars die Aufgabe, dessen Gedanken zur „civitas dei“ (meist übersetzt als „Vom Gottesstaat“ oder „Gottesbürgerschaft“) zu kritisieren.
Ich verweigerte dies mit den Worten, ich hätte Respekt vor den Gedanken anderer, auch wenn mein Blickwinkel ein anderer wäre (und um den mit Argumenten öffentlich zu machen, brauche ich mehr Zeit als fünf Minuten).
Heute pochen viele Menschen auf ihr Recht auf Meinungsfreiheit – immerhin ein verbrieftes Menschenrecht, gedacht als Schutz vor Verfolgungshandlungen politisch Andersdenkender – und zählen dazu ein vermeintliches Recht, andere mit ihrer Gesinnung zu terrorisieren. Wer hat nicht schon einmal den Satz gehört: „Das siehst du falsch!“
Dieser Satz ist Sprachmüll – man kann nur sehen, was man eben sieht! Andere können etwas anders sehen, hängt ja allein vom Blickwinkel ab, von der Beleuchtung, von der Sehschärfe, von Drogenbelastung … oder seelisch-geistigen Beeinträchtigungen wie z. B. Verliebtheit, Wut oder Rache. Oder Überheblichkeit (die oft nur eine Kompensation von Unterlegenheitsgefühlen ist). Es liegt also an der Beziehung, die ein Mensch zu etwas oder jemandem hat – und die zeigt sich an der Sprachform.
In meiner Generation wurden wir noch daraufhin erzogen, Respektsabstände einzuhalten, d. h. jemand „nicht zu nahe zu treten“. Das war horizontal symmetrisch gemeint – wurde aber vielfach auf vertikal uminterpretiert. Mir sagte vor einigen Tagen eine sich tyrannisch aufspielende „Wärterin“ in der Gurgel-Test-Straße, als ich sie höflich bat, mich nicht wie einen Vollidioten zu kommandieren, „Na knien werd‘ ich nicht vor ihnen!“ (Sie wusste weder meinen Namen noch mein Gesicht – ich trug ja Maske – merkte aber offensichtlich, dass ich eine unterschiedliche Sprechweise hatte und zog ihre Schlüsse daraus. Ich auch. Deswegen ließ ich ihre „Absichtserklärung“ scherzlos unwidersprochen. In meinem Buch „Die Tao-Frau“ – es ist vergriffen und nur mehr bei mir erhältlich – schrieb ich seinerzeit, frau müsse Fehdehandschuhe nicht aufheben, sie könne auch elegant drüber hinwegsteigen.)
In meinen Seminaren für die Verwaltungsakademie des Bundes bemühte ich mich immer wieder, Beamt:innen mit Kontrollfunktionen wie Tierärzt:innen oder Steuerfahnder:innen zu zeigen, ihre Aufgabe wäre, der Bevölkerung im Sinne des „Dienstleistungscharakters der Verwaltung“ die rechtlichen Bestimmungen zu erklären – nicht aber als Racheengel der Gesetze und Verordnungen die „Kundschaft“ auszuschimpfen, wie es seinerzeit vermutlich die Eltern mit ihren Kindern taten.
Respekt lernt man, wenn man respektvoll behandelt wird. Das ist die eine Seite der von mir entwickelten Methode PROvokativpädagogik (s. mein gleichnamiges Buch). Die andere ist aggressionsbefreiter Humor: Kampfangebote als Spielangebote umzudeuten (und die braucht man ja nicht anzunehmen).