Nun haben sich also die derzeitigen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs festgelegt: Das Verbot der Hilfe zum Selbstmord sei verfassungswidrig und werde per 31. Dezember 2021 aufgehoben (wörtlich zitiert nach Kurier, 12.12.2020, Seite 19).

Ich fände die Formulierung „Die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord ist verfassungswidrig“ besser. Denn die Gegenteile zu Verbot sind Erlaubnis oder gar Gebot – und genau diese Sprachverwirrung kritisiere ich seit der Aufhebung der „Strafbarkeit“ der Abtreibung in den ersten 12 Schwangerschaftswochen durch die große Strafrechtsreform 1975, denn uns 6 Frauen vom „Komitee zur Abschaffung des § 144“ (im alten Strafgesetz) ging es nur darum. Alle anderen Behauptungen waren unfaire Gegenpropaganda.

Das Argument der Befürworter eines sogenannten Rechts auf selbstbestimmtes Sterben, mit dem sie ihre Kritiker emotional ansprechen, wurzelt zumeist im Hinweis auf das unerträgliche Leiden “austherapierter“ prämorbider Menschen. Das geht nahe: Man denkt unwillkürlich an das eigene Lebensende. Aber „prämorbid“ sind wir alle, egal wie alt wir sind. Gevatter Tod hält sich nicht an Alterslimits.

Woran nicht gedacht wird, sind die schwer Depressiven, die sozial Verzweifelten, die seelisch Überforderten – und zu diesen gehören auch diejenigen, die der Hass auf eine allein an materiellem oder gloriosem Erfolg interessierte uneinfühlsame Gesellschaft vergiftet. (Dazu zählen auch potenzielle Amokläufer und Terroristen.) All diese Menschen sind nämlich schwer auszuhalten, sie „nerven“ oder machen Angst, daher bekommen sie selten echte, das heißt ehrliche Zuwendung. Da steckt das Wort Ehre drin, und jemand ehren bedeutet auch, sich die Zeit zu nehmen, ihm oder ihr den Respekt – das „Ich sehe, wie es dir geht – und ich halte es aus“ – nicht mit schnellen „Zustands-Beseitigungs-Aktionen“ zu nehmen.

Jeder Mensch, der schon einmal in der Situation war, wo man glaubt, sein Leben nicht mehr ertragen zu können, weil es einem so „das Herz zerreißt“, kennt dieses Befinden. Das kann ein Dauerzustand werden (daher habe ich das alles in meinem letzten Buch „Komme was da wolle – Krisenkompetenz“ behandelt), deshalb sollte man wissen: Je tiefer man in seinen Gefühlsabgrund stürzt, desto mehr braucht man die Gegenposition Vernunft, um seine Balance wieder zu finden (auch wenn alles so weh tut). Die kann auch von jemand anderem kommen – aber sie muss voll der Geduld, Empathie und auch Liebe sein. (Manche Schwer-Depressive, die seit Wochen nicht mehr die Kraft hatten, sich zu waschen oder umzuziehen, muss man halt zuerst in eine duftende Badewanne stecken …)

Diese „Kompetenz“ muss aber genauso „erlernt“ (d. h. neuronal eingespeichert) werden, wie jede andere. Im Spätmittelalter dienten dazu kleine Büchlein zur „ars moriendi“. Heute hingegen wird mit Glücks-Ratgebern (oder Prozac) vorgegaukelt, „lebenswert leben“ heiße, immer topfit zu sein. So wird aber Scham produziert – und Scham verengt das Denken, Fühlen und Vertrauen genauso wie Hass und Verzweiflung.

Ich meine jedoch (und habe das auch in meine Krisenkompetenz-Buch hineingeschrieben), wir alle sollten schon in der Schule nicht nur jährlich einmal Feueralarm üben sondern, wo immer es zum Thema passt, Krisenkompetenz erarbeiten: Wahrnehmen, wie es anderen geht (auch eine Stimmungsveränderung ist eine, in diesem Fall neuro- chemische Reaktion) und ebenso einem selbst. Verhaltensalternativen andenken. Dazu gehört auch Unterstützung einfordern –  und ebenso protestieren, vor allem bei denen, die einen verletzen oder seelische Fahrerflucht begehen.