Wahn ist laut Wikipedia „der Name für einen seelischen Zustand, der von starker Ichbezogenheit und falschen Urteilen über die Realität geprägt ist und so zu unkorrigierbaren Überzeugungen führt“ (Wahn – Wikipedia).
Sich keiner Schuld bewusst zu sein, zählt auch zu den Symptomen dieser Störung – wobei es die soziale Umwelt ist, die dadurch gestört wird, egal ob es verzweifelte Angehörige sind, die etwa unter einem Machtbesessenen leiden (wie in dem – mit Mario Adorf verfilmten – Roman „Via mala“ von John Knittel Via Mala (Roman) – Wikipedia) – oder Bürger unter einem machtverliebten Bürgermeister. Der Unterschied liegt in den Reaktionen – ob sich die Geschädigten überhaupt trauen, sich zu wehren, und ob sie dabei im Rahmen der Gesetze bleiben – und ob der oder die Kritisierte die Kritik annehmen kann oder aber sogleich zu Repressalien greift.
Derzeit sind es etliche Bürgermeister, die sich entgegen der Prioritätenreihung für die Anti-Corona-Impfungen vorgedrängt haben (Der Standard, 20.01.2020, S. 8) und noch dazu mit der „faulen“ Ausrede, sie wollten ein Vorbild abgeben. Das haben sie ja auch – nur eben ein schlechtes.
Der bedeutende deutsche Psychiater und Psychoanalytiker Johannes Cremerius (1918–2002) schrieb in seinem Essay „Die psychoanalytische Behandlung der Reichen und Mächtigen“ (in „Vom Handwerkzeug des Psychoanalytikers, Band 2“, Verlag Günther Holzboog, Stuttgart 1984) über „Patienten in hohen politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen“ – und, präzisiere ich, „am Land“ ist der Bürgermeister Kaiser! – diese „erscheinen zwar in den Praxen der Psychoanalytiker – dies sogar zahlreich, weil sie es gewohnt sind, sich überall das zu kaufen, was als das Neueste, Modernste und Beste propagiert wird“ (S. 221), nur suchten sie etwas ganz anderes als eine Heilbehandlung. Was sie suchten, sei „Trost und Hilfe, nachdem sie sich die Finger verbrannt haben“ (S. 223) oder, ergänze ich wieder aus meiner über 50jährigen Praxis, psychologische Tipps und Tricks zum Selbstschutz bzw. zur Feindesvernichtung, wenn ihr eigenes Repertoire an Killerphrasen erschöpft ist.
In meinem Institut für Stressprophylaxe & Salutogenese (ISS) haben wir 2019 zu „Bürgernähe im Zeitalter der Digitalisierung“ geforscht (nachzulesen auf www.salutogenese.or.at) und dabei von unseren InterviewpartnerInnen auch viel derartige Kritik an Kommunalpolitikern erfahren. Die vorgesehenen Workshops zur Verbesserung der Kommunikation – und die beginnt bei Selbstwahrnehmung – müssen leider noch immer bis nach dem Ende der Lockdown-Maßnahmen warten. (Sie können aber jetzt schon beim ISS bestellt werden!)
Bürgernähe heißt nämlich vor allem, Kommunikations-Räume für Kritik und Verbesserungsvorschläge anzubieten – und nicht, wie unlängst ein Bürgermeister auf Kritik aus dem „grünen“ Lager konterte, in dem er einem gleichaltrigen Mann kundtat „Leiste du erst mal so viel wie ich!“, soziales Engagement nämlich – ohne irgendwelche Kenntnis über dessen Beruf und ehrenamtliches Engagement zu besitzen (nämlich im Bereich der Arbeit mit körperbehinderten Menschen).
Als ich in den 1980er Jahren aus Sorge, als psychoanalytisch ausgebildete Juristin nicht den Kriterien des in Ausarbeitung befindlichen Psychotherapiegesetzes zu entsprechen, das Zertifikat als Erwachsenenpädagogin an der Pädagogischen Akademie (nunmehr Hochschule) des Bundes erwarb, war für mich das Wesentlichste, dass Werner Lenz (Werner Lenz (Erziehungswissenschaftler) | AustriaWiki im Austria-Forum (austria-forum.org)) besonders betonte, man müsse sich immer selbst kontrollieren, dass man sich nicht anderen gegenüber „überhebe“. Die könnten sonst nämlich das Gesagte nicht „annehmen“. Er meinte es geistig und verbal. Ich meine: auch materiell (Privilegien, Vorteile).
Wer wähnt, er oder sie „dürfe sich’s richten“, weil er oder sie so unverzichtbar wäre, gehört von uns allen wieder in die Realität zurückgeholt.
Das gilt auch für Staatsanwälte, wenn sie eine kritische Journalistin mit ihren juristischen Waffen mundtot machen wollen.