Das letzte Mal war ich in Staatz glaub ich 1953 – am Schulwandertag in der 3. Klasse Volksschule mussten wir die Ruine erforschen. Und jetzt nach langer Zeit das erste Mal wieder – eingeladen zur Premiere des Musicals, und das erste Mal erlebt, was der Bühnenzauberer Werner Auer ersingt und alles noch dazu erarbeitet – und stolz gewesen im Bewusstsein, was sich in diesen 65 Jahren da entwickelt hat.
Um Entwicklung geht es ja auch in dem Musical nach dem Roman von Victor Hugo, um einen Mann, der wegen des Brot-Diebstahls für ein hungerndes Kind als Strafgefangener verbittert nach Haftverlängerungen wegen Ausbruchsversuchen unentwegt auf „Sträfling“ definiert und abgelehnt wird. Von dem berühmten Soziologen Norbert Elias (1897–1990) stammt der Satz „Gib einer Gruppe einen schlimmen Namen und sie wird ihm folgen“. Genau das passiert Jean Valjean – er wird als Schwerverbrecher definiert.
In der systemischen Familientherapie gibt es eine Fragemethode, mit der solche „Etikettierungen“ ad absurdum geführt werden. Wenn beispielsweise eine Mutter kommt und klagt, mein Kind ist ein Bettnässer, wird gefragt „Oh – das ist aber unangenehm. Den ganzen Tag?“ „Nein“, lautet dann die übliche Antwort, „Nur in der Nacht!“ „Das ist ja auch unangenehm genug!“, sagt dann der Therapeut, „Die ganze Nacht hindurch?“ „Nein“, wird dann geantwortet, „Nur so zwischen 3 und 4 Uhr …“ „Das ist ja auch unangenehm,“ meint dann der Therapeut, „Und das jede Nacht?“ „Aber nein – nur so einmal, zweimal in der Woche!“ „Ja, aber dann hat es ja nur ab und zu ein Kontrollproblem – aber man kann ihm doch nicht so einen Namen umhängen …!“
Unbedacht wird ein einzelnes Detail aus der Biographie zur Namensgebung verwendet – und bleibt. Das ist Gewalt. Es schädigt die Selbstachtung und verlockt andere, Gleiches zu tun. Deswegen ist es so wichtig darauf zu achten, was man so unbedacht „dem Gehege der Zähne entfliehen“ (wie es so schön bei Homer heißt) lässt. Javert, der unerbittliche Polizeibeamte im Musical, tut dies nicht unbedacht – er „tut nur seine Pflicht“. Den Satz kennen wir doch – oder?
Jean Valjean wird „resozialisiert“ – durch die milde Güte eines Priesters, der seinen unverrückbaren Glauben an die Gnade Gottes auch gegen „das Gesetz“ demonstriert. Genau darum geht es im Christentum: Wo das Alte Testament noch das Gesetz behauptet, setzt der große Liebende Jesus die Gnade dagegen – und genau das, das Vertrauen auf Gnade, ermöglicht Wandlung und Weiterentwicklung. (Das hat auch der große österreichische Pädagoge und Psychoanalytiker August Aichhorn (1878–1949) in den „Erziehungsanstalten“ Ober-Hollabrunn und St. Andrä an der Traisen bewiesen: Nur geduldiger und verlässlicher Beistand kann als „schwer erziehbar“ Definierten zur positiven Weiterentwicklung und zu einem Selbstverständnis als wertvolles Mitglied einer wertschätzenden Gemeinschaft verhelfen!)
Während ich diese Zeilen schreibe und noch ganz erfüllt bin von der großartigen Inszenierung und den hervorragenden Sänger*innen fällt mir ein Erlebnis aus 2003 ein, als ich kurz wieder in meine Heimat (das Weinviertel) zurück übersiedelt war: Ich war zu einer Vernissage in die Fotogalerie Westend eingeladen und traf dort auf eine Kollegin aus meinen Journalistinnen-Zeiten, die damalige Ehefrau des Wiener Bürgermeisters, die sich abfällig äußerte, wie man nur das wundervolle Wien mit seiner Hochkultur verlassen könne, um in den Niederungen der „Provinz“ zu leben. Sie schwärmte: „WIR haben das Burgtheater, WIR haben die Staatsoper, WIR haben das Simpl …“ usf. Sie lebte noch im vorigen Jahrhundert …
Ich blieb stumm. Beschämt. Damals hatte ich noch nicht erlebt, in wie vielen Orten in Niederösterreich ausgezeichnete Hochkultur präsentiert wird – hoch vor allem als Name für die Leistungen der Künstler*innen und aller Teams! Man muss selbst erfahren haben, um authentisch bewerten zu können. Heute würde ich so eine wahrheitswidrige „Etikettierung“ nicht dulden.