Nach einer Klebstoffattacke auf das Vermeer-Gemälde vom Mädchen mit dem Perlenohrring sind in den Niederlanden drei Klimaaktivisten zu Haftstrafen verurteilt worden, las ich soeben auf orf online (https://www.orf.at/stories/3292181/) – und weil ich augenblicklich das Buch „Über Religion im Ethikunterricht sprechen?“ von Sophie Wimmer und Katharina Haunschmidt (edition Widerhall) lese, denke ich darüber nach, dass man im Ethik-Unterricht eigentlich auch thematisieren sollte, wo die Grenzen der verkörperten Protestfreiheit liegen sollten. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt ja „Meinung“ und das beinhaltet mehr oder weniger kluges und wohlformuliertes Reden und Schreiben – nicht aber Delikte wie eben Sachbeschädigungen (auch versuchte!) oder Beleidigungen oder Stalking.

Im Studium der evangelischen Fachtheologie hatten wir zwei Semester Ethik, und da ging es nicht nur um Literarisches und Historisches, sondern vor allem um aktuelle politische Themen wie eben Umwelt, und dabei auch Wirtschaftsinteressen – und beide Aspekte sind ja immer auch präsent, egal, worum es sich handelt, das haben wir ja in der Pandemie und seither nur zu deutlich zu spüren bekommen.

Und genau deswegen stört mich die mentale Gewalt aus den politischen Parteien, wenn versucht wird, durch gezielte Attacken das Denken der Bevölkerung, also mehr als nur Wählerschaft, zu manipulieren: Damit meine ich die laufenden Selbst-Inszenierungen als Ethik-Apostel vor Fernsehkameras, in denen der Name der derzeit führenden Regierungspartei mit dem Wort Korruption verbunden wird – eine verbale Taktik, die uns SPÖ-Jungpolitiker:innen bereits 1970 in der Schulungen zur psychologischen Kriegsführung anempfohlen wurde und die sich auch z. B. in Wortverbindungen wie „sozial“ mit „Heimat“ bei der FPÖ wiederfindet.

Wenn Martin Tschiderer am 27. Oktober 2022 im Standard unter dem Titel „Die Grenze ist nicht das Strafrecht“ und „Der Umgang der ÖVP mit Postenvergabe und öffentlichen Geldern muss sich ändern“ (S. 28) über den ÖVP-Verhaltenskodex zu „hohen moralischen Verpflichtungen“ und der  „Vorbildfunktion“ von Politiker:innen, wie auch der Aussage von Johanna Mikl-Leitner, „Gerichte allein entscheiden, wer sich etwas zuschulden hat kommen lassen und wer nicht“ ätzte, das sei ein „seltsames Politikverständnis“, sage ich, gottlob haben wir heute eine Zeit, wo moralische Sichtweisen nicht mehr in Urteile einfließen dürfen, sondern nur mehr bewiesene Fakten.

Es ist ein Unterschied zwischen „konventioneller“ Moral und „postkonventioneller“ Ethik: Erstere wird von „Besserwissern“ vorgeschrieben, letztere nur vom Gewissen. Ja, da haben manche, oder auch wir alle, Lernbedarf. Der SPÖ-Postensammler Dietmar Hoscher fällt mir dazu ein (Zu krank für den U-Ausschuss: Nachspiel für Ex-Casinos-Vorstand und Rapid-Funktionär Hoscher | kurier.at) – und der Club 45 – und viele Posten-Absprachen, bei denen ich unbeteiligte Zuhörerin war … und umgekehrt Attac-Österreich-Gründungsmitglied Christian Felber, der einmal sagte, es solle niemand mehr als das Sechsfache von dem verdienen, was die schlechtest bezahlte Person im Betrieb verdient. Und Bruno Kreisky, der auf einem seiner letzten Parteitage (in Linz) wollte, dass Manager in parteinahen Betrieben keine Mandate bekleiden sollten (wie damals der Gemeinderat und gleichzeitig Gewista-Chef Erik Hanke, der Vater des aktuellen Wiener Finanzstadtrats). Diese Regel setzte sich aber nicht durch. Utopien? Der leider bei einem Flugzeugabsturz verunglückte Sozialminister Alfred Dallinger (1926–1989) sagte immer, die Utopie von heute ist die Realität von morgen. Ethik hoffentlich auch.