Von dem US-amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman (* 1942) stammt der Begriff der „erlernten Hilflosigkeit“. Er bedeutet, sich selbst allein für die vermeintliche Unfähigkeit verantwortlich und sogar schuldig zu fühlen, die jeweilige oder gesamte Lebenssituation verbessern zu können.
Aus aktuellem Anlass formuliere ich jetzt eine geistige Gegenhaltung: Zu glauben, selbst in – aus welchen Gründen auch immer – geschwächtem Zustand „funktionieren“ zu können (bzw. zu müssen).
Da kann die Ärzteschaft noch so oft mahnen, man möge bei Fieber nicht an den Arbeitsplatz und womöglich die Kollegenschaft anstecken (abgesehen davon, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit steigt). Ebenso solle man übermüdet (oder unter z. B. Muskeln oder psychisch „entspannenden“ Medikamenten) nicht mit dem Auto fahren – denn dieser Zustand entspräche einer Alkoholisierung von mindestens 1,0 Promille. Und wenn im Beipackzettel eines Medikaments davor gewarnt würde, keine Maschinen zu bedienen, gilt das genauso.
Aber abgesehen davon, dass kaum jemand die Beipackzettel liest – sie werden ja auch Leser-unfreundlich in winziger Schrift gedruckt! – glauben die „Braven“, die Disziplinierten, Chef-Folgsamen, sie müssten immer ihre Pflichten erfüllen. Während die „Schlimmen“, die sich trauen, auf sich selbst und andere aufzupassen, sich in solchen Zuständen „aus dem Verkehr ziehen“. Ersteres geht manchmal ordentlich schief.
Unter Drogeneinfluss (Alkohol mitgemeint) geht die realistische Selbstwahrnehmung verloren, sogar die Erinnerung – bei manchen von den Drogen, aber auch bei Medikamenten. Ich habe selbst während meiner Ausbildungszeit als Psychotherapeutin auf Bitten meines Lehrtherapeuten, eines Psychiaters, einmal abends experimentell nur eine Pille eines neuen Psychopharmakons eingenommen und anschließend eine Sitzung besucht, in der ich angeblich eine flammende Rede gehalten haben soll – „war aber nicht dabei“. Mein Therapeut erzählte mir dann, als ich ihm dies berichtete, ein Kollege hätte nach der Probe-Einnahme in seinem Auto viele neue Waren gefunden – und konnte sich nicht erinnern, diese eingekauft zu haben.
Nun ist ein Fernsehmoderator „aus der Rolle gefallen“ und danach vom Arbeitsplatz entfernt worden – ohne dass diejenigen, die für diese Maßnahme Verantwortung tragen, dies sofort erklärt hätten … Ist ja nur ein Mensch, und nicht eine technische Bildstörung. (So hätte man übrigens auch reagieren können – es gab ja schon mal solche Sendestopps.) Deswegen habe ich gestern auf Facebook angeregt, die TV-Teams von Live-Sendungen in anlassbezogener Psychodiagnostik und Krisenintervention zu schulen (wie etwa Polizist:innen) und auch anzudenken, dass es immer mehr Möglichkeiten gibt, als nur „entweder – oder“. Deshalb habe ich auch in Erinnerung gebracht, dass die Tenor-Karriere Siegfried Jerusalems (* 1940), ursprünglich Orchestermusiker mit nur nebenbei Gesangsausbildung, als Opernsänger begann, als er in einem Notfall aus dem Orchestergraben auf die Bühne geholt wurde.
Auch wenn ich auf Grund meiner Berufserfahrung (und Blickdiagnostik) eher der Alkoholthese zuneige, vergleiche ich doch die Reaktionen z. B. mit denen auf ähnlich missglückte Rezitationen des österreichischen Jahrhundertschauspielers Oskar Werner (1922–1984). Der grandiose Burgschauspieler Werner Krauß (1884–1959) stürzte sogar einmal von der Bühne … und blieb dennoch unverzichtbar.
Es ist die Tragik einer Biographie, die wir respektieren sollten – die uns auch darauf hinweist, wo wir mit Verbesserungen ansetzen könnten. Die erste sehe ich darin, Versagen nicht zu bestrafen, sondern als Ansatz zur Unterstützung zu sehen – und das erfordert Verständnis und respektvollen Dialog.