Spiegel-Journalist Claas Relotius – heißt er wirklich so? Zweifel sind angebracht … – soll nicht nur Interviews und Reportagen mehr oder weniger gefälscht haben, sondern auch Leser zu Spenden (angeblich für türkische Waisenkinder) aufgerufen haben, und zwar auf sein Privatkonto, aber das hatte er logischerweise nicht ausgewiesen.
Tags darauf kommt ans Tageslicht, dass Österreichs Paradedichter Robert Menasse „lange Passagen“, die von Walter Hallstein, dem ersten Kommissionsvorsitzenden der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, d. i. die Vorläuferorganisation der EU), zu einem pointierten Pseudozitat „verdichtet“ hat (Beide Meldungen: Der Standard, 24./25./26.12.2018, S.20). Menasse, Träger des Deutschen Buchpreis‘ 2017, verteidigt seine „Provokation“, „Fiktives als Faktisches auszugeben“ (Kurier, 24.12.2018, S. 8) damit, dass er ja nur „eine Autorität zu seinem Kronzeugen erklärt habe, der nichts dagegen gehabt hätte“ – woher will er das wissen? – und dass Dichter dürften, was Wissenschaftlern und Journalisten verwehrt sei (diesen letzten Satzteil habe ich „verdichtet“.)
Aber: Sieht sich Menasse nur als Dichter, bzw. konkreter, als Schriftsteller? Immerhin unterrichtet er auch universitär, und in seinem „European Balcony Project“ kooperiert er mit der hochrangigen Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot (Donau Universität Krems). Oder realisiert er nicht, wie hochsensibel wir alle in der „schreibenden Zunft“ heutzutage, wo die Verschwörungstheorien, -ideologien und -gerüchte, wie auch die gezielten Fake News via Internet immer mehr Gehirne infizieren, mit Sprache umgehen müssen? Sprache hat Suggestivkraft. Wir können uns meist nicht sofort wehren, wenn Unwahrheiten publiziert werden – und wir müssen uns dies auch gut überlegen, denn jeder Protest ist ja gleichzeitig auch eine Multiplikation der Ursprungsfiktion.
Psychoanalytisch gedacht stellt sich die Frage, ob sich Claas Relotius bloß Arbeit ersparen wollte – oder einfach nur Erfolge vortäuschen? Ein besserer Mensch scheinen, als er tatsächlich ist? Oder geht wiederholt die Phantasie mit ihm durch? Wir hatten selbst einmal einen Mitarbeiter, den seine „Pseudologia phantastica“ – zwanghaftes Lügen – rauschhaft fort riß: Seine behauptete adelige Abstammung ließ uns noch schmunzeln, seine Erzählungen von Riesenerbschaften nervten, die Behauptung eines akademischen Grades im Amtsverkehr hingegen war bereits kriminell. Urkundenfälschung. Wir mussten uns von ihm trennen – auch wenn uns klar war, dass er sich wie ein kleines Kind in eine grandiose Identität hineinträumte und in seinen Träumen verlor … Verständlich im „Zeitalter des Narzissmus“ (© Christopher Lasch) – aber unnötig und auch kontraproduktiv, denn letztlich zählt Persönlichkeit und nicht Abstammung, Reichtum, Titel oder – Beziehungen.