Da lese ich doch im aktuellen profil 29 vom 18. Juli (Seite 26), dass ein „interdisziplinäres deutsch-österreichisches Autor*innenkollektiv“ propagiert, dass ein „starkes Immunsystem die effektivste Antwort“ auf das Corona-Virus sei. Dass Ulrike Guérot, die mir bei ihren Talkshow-Auftritten in letzter Zeit vor allem durch die häufige Wiederholung des Hinweises, dass sie Politikwissenschafterin sei – was gegen Kompetenz in Virologie spricht – aufgefallen ist und sich inhaltlich ansichtsmäßig neben Herbert Kickl (der sich allerdings mit seinem nicht abgeschlossenen Philosophiestudium in Gesundheitsfragen doch um einiges qualifizierter ausweisen könnte) hier federführend aufscheint, wundert mich nicht – beim zumindest im Nebenfach studierten Psychologen und „Gemeinwohlökonomen“ Christian Felber schon.
„Gesunde Ernährung, viel Bewegung, Yoga, Tanz und Sport, Aktivitäten, die Freude machen und Beziehungen stärken, Kontakt mit Natur und Spiritualität“ lauten deren Stärkungs-Vorschläge – und beweisen, dass sie offenbar nicht wissen, dass in der Pandemie Menschen, deren physische wie psychische Sicherheit sich massiv verringert und krankheitswertige Depressivität ausgelöst hat, dazu keine Kraft aufbringen können.
Mich erinnert das an „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen!“ Marie-Antoinette lässt grüßen.
In meinem neuen Buch „Mit Recht und Seele“, das der Kompetenzverbesserung in juristischen Berufen wie auch all derer, die „der Gerechtigkeit willen“ strafen wollen, gewidmet ist, erkläre ich, wie „durch Beziehungen“ das Immunsystem geschädigt wird und nenne als Beispiel den „Jahrhundertboxer“ Cassius Clay, der in diesem Sinn vor Beginn seiner Boxkämpfe seine Gegner mit Beschimpfungen umtänzelte (S. 74).
Ich erinnere auch an die Sendung „Leib und Seele“, in der der ehemalige ORF-Moderator Horst Friedrich Mayer (1936–2003) durch Blutabnahme vor bzw. nach der Rezitation des Gebets des Gretchen aus „Faust 1“ aufzeigen konnte, wie die Immunkraft der Schauspielerin massiv verringert war – und das war deren kurzfristige Berufsleistung, und keine lebensgeschichtliche Situation von Dauer.
Wenn man aber tagtäglich mit leidenden Menschen zu tun hat, die weder über die Existenzsicherheit einer wohldotierten Anstellung verfügen, Sorgepflichten für Familienangehörige oder als UnternehmerInnen für ihre Mitarbeiterschaft ernst nehmen, auf kein „stärkendes“ Beziehungsnetz zurückgreifen können, sondern sich sogar Kritik gefallen lassen müssen, warum sie sich nicht anderes organisiert hätten (und sich im Protest daraufhin „daneben benehmen“), klingen diese Ratschläge mehr als zynisch.
Deswegen fordere ich in meinem neuen Buch auch verpflichtende Praktika in den Berufsfeldern von Sozialarbeit und Elementarpädagogik für all die akademischen „SchreibtischexpertInnen“, die offensichtlich vergessen oder verleugnen, wie es der Mehrheit der Bevölkerung geht und die sich nicht schämen, ihren privilegierten Lebensstil als Allerweltsrezept anzubieten.