In einer fokussierten „Glosse“ zur Migrationspolitik kritisiert Andreas Koller im Rundumschlag („Diese Migrations-,Politik‘ gleicht einem Armutszeugnis“, Salzburger Nachrichten, 10.11.2022, Seite 2), den Bund, die Länder und die EU, „die nicht willens ist, ihre Außengrenzen zu schützen“, die Staaten, die „die Migranten durchwinken, statt ihrer Verantwortung gerecht zu werden“, die mangelnde Unterscheidung „zwischen Armutsmigranten und tatsächlichen Flüchtlingen“ und wie sie „linken wie rechten Parteien als Unterfütterung für ihre ideologischen Parolen dienen“.
Was der Kürze der Glosse zu Opfer fällt, ist aber die hinter all dem lauernde Mentalität: Koller formuliert Armutszeugnis – ein Begriff, der üblicherweise auf die Geisteshaltung hin angewendet wird.
Aber wäre hier nicht eine Neuwortschöpfung fällig? Denn „Armutszeugnis“ hat ja auch Beweischarakter – und sind die nicht alle „arm“ (an Sicherheit, Bildung, Chancen etc.) gegenüber der sogenannten Ersten Welt?
Ich erinnere mich an ein mehrtägiges Seminar für Psychiatrie-Pflegepersonen in einem Wiener Spital, in dem eine Frau sich sehr negativ über einen sprechbehinderten Kollegen äußerte, der zu der Zeit vorübergehend nicht im Seminar anwesend war. Da ich diese Ablehnung sehr ernst nahm, machte ich sie zum Thema: Was konkret wäre ihr so zuwider? Heraus kam: Sie fühle sich in ihren eigenen Karrierewünschen gebremst, weil sie ja auf diesen Kollegen Rücksicht nehmen müsse – und der sei halt nicht geschwind genug und außerdem „kein Renommee“ für das Spital.
Die Angst der Menschen vor potenzieller Bedrohung – sei es Konkurrenz durch Fleißigere oder Fordernde (diesseits oder jenseits der Kriminalitätslinie) – und Verlusten, die gibt es immer, wenn plötzlich noch jemand dazu kommt. Das ist meist bei jüngeren Geschwistern, bei Frauen, die Gleichwürdigung einfordern, bei Mitarbeiter:innen, die um gerechte Entlohnung kämpfen … und noch viele mehr, die derzeit als Gruppe noch schweigen (Pensionisten etwa).
Ich bin auch der Ansicht, dass ideologische Parolen kontraproduktiv sind: Sie „verschieben“ nämlich die allgemeine Angst vor der unausbleiblichen Veränderung und Verminderung (nicht bloß durch die caritative Herausforderung, sondern durch die Wirtschaftsgeschehnisse im Gefolge der Pandemie, des Überfallskriegs auf die Ukraine, Terror etc.) auf das konstruierte Feindbild des politischen Konkurrenten und schaffen damit ein Klima, das an die Vorkriegszeit der 20er und 30er Jahre erinnert.
Das Recht geht vom Volke aus, heißt es in der Österreichischen Bundesverfassung – und daher vom Bildungsstand einer breiten Bevölkerung von Smartphone-Wischern, denen schon das Zeitunglesen zu mühsam geworden ist; an denen orientieren sich auch viele Volksvertreter – denen es auch zu mühsam geworden ist, selbst gemeinsam mit Fachleuten an fundierten Problemlösungen zu arbeiten und sich lieber von Spindoktoren oder Luft-Beratern (analog den Luft-Schneidern in H. C. Andersens Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“) nur schnell und oberflächlich briefen lassen.
Es ist ein Bildungsproblem – und Bildung muss dem Menschen wieder zumutbar gemacht werden.
Bildung bedeutet, mehrperspektivisch zu denken, zu versuchen, Gegenansichten zumindest zu verstehen (auch in ihrer Historie) und politische Entscheidungen aufklärend zu begründen (und nicht mit Sprachmüll zu verdecken). So stelle ich mir Transparenz vor – nicht als Schnüffelei nach irgendwelchen Ansatzpunkten zum moralisierenden Bashing.