Üblicherweise wird Charakter als „verfestigtes Verhalten“ interpretiert – jedoch wird damit suggeriert, dass man Verhalten nicht ändern könnte. Man kann! Aber viele Bezugspersonen wollen das ja nicht – sie wollen eher, dass man einschätzbar ist und daher möglichst unveränderlich. Wer hat noch nie den Satz gehört „Bleib wie du bist!“? Eigentlich insgeheim ein Fluch gegen persönliches Wachstum. Dabei ist es doch eine Lebensaufgabe, die eigenen Begabungen bestmöglich zu entfalten – nicht nur zum eigenen Besten, sondern auch zu dem des Umfelds.
Aus psychoanalytischer Sicht durchlaufen wir alle körperliche wie mentale Lernphasen, in denen wir bestimmte Verhaltensweisen einüben (wenn man uns lässt): Die erste, so ab Geburt bis etwa die nächsten 18 Monate, wird die „orale“, zu Deutsch „Mund“-Phase genannt, weil die Überlebenskraft des Babys davon abhängt, sich – wie auch immer, etwa durch Gebrüll – Nahrung zu verschaffen, nicht nur materielle, sondern auch soziale, nämlich Zuwendung, und auch die Zeit zum Genießen. Wird die verunmöglicht (z. B. durch Zeitdruck), fällt später diese „Kompetenz“ aus (wie etwa bei vielen Kriegskindern, da die Flucht in den Luftschutzkeller immer vordringlich war), und man neigt dann dazu, sich wie auch anderen Genuss zu verbieten.
So gegen Ende des zweiten Lebensjahres, wenn die Muskulatur des Kleinkindes stark genug entwickelt ist, um zuzupacken, zu zwicken und festzuhalten – nur das Loslassen ist meist ein Problem – entwickeln sich Durchhalte- und Verzichtfähigkeiten und die werden durch Lob noch verstärkt. („Anale“ Phase heißt dies und erinnert damit an die „Schließ-Muskulatur“.) So wird man zu „Held“ oder „Heldin der Arbeit“, Workaholic und Burn-out-Kandidat:in. Liebevoll wird man nicht.
So ab drei, dreieinhalb, setzt man die „phallische“ – die „Herzeig“-Phase an: Das Kind beginnt bewusst mit sich selbst zu experimentieren, spielt andere Menschen nach, verkleidet sich und gefällt sich selbst. Meist wird es dabei von unverständigen bzw. besorgten Leuten heftig eingebremst: „Komm dir nur nicht gut vor!“ Manche versuchen das dann ein Leben lang nachzuholen und werden daraufhin als narzisstisch beschimpft – außer sie machen einen Beruf daraus und sind darin erfolgreich, dann heißen sie Künstler:innen. Und weil sie als Mitglieder dieser Berufe andauernd um Anerkennung kämpfen und sich damit Bewertungen stellen müssen, zeigen sie in der nachfolgenden „ödipalen“ Phase (nach dem antiken König Ödipus, der unwissentlich seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete) so um den fünften Geburtstag herum vor allem Konkurrenzverhalten mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil – so Sigmund Freud – falls der oder ein Ersatz für ihn oder sie überhaupt vorhanden ist. Aus heutiger Sicht gehört diese Altersphase neubeforscht und beurteilt, meine ich, denn ich orte da viele Veränderungen bzw. Möglichkeiten (vor allem dank professioneller Elementarpädagogik).
Überhaupt Pädagogik: Aus meiner Sicht gilt es, nicht mehr auf „richtig“ oder „falsch“ hin zu disziplinieren, sondern so früh wie möglich ethische Fragen (natürlich in altersgerechter Sprache) zu stellen: Was findest du richtig? Und wie könnte man sich noch verhalten? Und auch ehrlich zu antworten (anstatt niederzuschreien): Das finde ich nicht so gut – andere vielleicht schon – denn das löst bei mir folgendes aus … So lernt man nämlich Empathie: Die Wahrheit des anderen spüren und auszuhalten – und damit als eine Möglichkeit unter vielen in eigene Friedfertigkeit zu integrieren.