Bei dem Wort Abwehr denken viele meist an körperliche Verteidigungsmaßnahmen, die Hand (oder im Kampfsport: Faust) vor dem Gesicht, oder wie im „Phantom der Oper“ neben dem Hals (um der Drahtschlinge des verrückten Komponisten zu entgehen).
In der Psychoanalyse bedeuten „Abwehrformen“ die unbewussten Spontanhandlungen, mit denen Inhalte, die das Bewusstsein nicht ertragen würde, „umgestaltet“ werden. Sigmund Freuds Tochter Anna (1895–1982) hat ein ganzes Buch dazu geschrieben („Das Ich und die Abwehrmechanismen“), und manche dieser Reaktionen haben Eingang in die Alltagssprache gefunden. Projektion etwa: Man unterstellt in voller Überzeugung der Richtigkeit dieser Sichtweise das eigene Verhalten dem Anderen – so wie es in der Bibel (Bergpredigt (Mt 7,3–5 EU) heißt: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ Das kennen wir wohl alle aus unseren Alltagskonflikten, vor allem aber aus den politischen Schmutzkübelkampagnen: Wer anfängt, hat die Themenführerschaft – auch wenn viele von Parallelgeschehnissen der in den jeweils anderen Parteien wissen.
Eine andere Abwehrform ist die Verleugnung – nicht zu verwechseln mit Ableugnen. In der Verleugnung „sieht“ man die Tatsachen nicht – so wie den (wie vermutet) verlegten Schlüssel, der in unmittelbarer Nähe vor einem liegt, aber ausgeblendet wird, weil man eigentlich nicht weggehen will und daher absperren müsste. In den Phasen der Bewältigung schockierender Erlebnisse heißt diese (zweite) Phase das „Nicht wahrhaben wollen“: Dann sucht man nach Erklärungen, dass all das Unerträgliche nicht stimmt – nicht stimmen kann.
Eine andere Abwehrform ist die Rationalisierung: Man hält an angeblich sachlichen Erklärungen fest, um nicht emotional ins Chaos zu stürzen.
Derzeit erlebt man viele dieser Hilflosigkeitsreaktionen an denjenigen, die im Zuge der Finanzschwierigkeiten der “Landesfirma“ Wien Energie mit Verantwortungsforderungen konfrontiert sind. Und es erhebt sich die Frage: Warum wird sofort abgewehrt im Sinne von verteidigt – einer Kampfhandlung! – und nicht im Sinne einer perfekten Krisenkommunikation gesagt: Wir sehen noch nicht klar – wir müssen erst prüfen – und legt die bekannten Fakten vor, am besten durch jemand Neutralen?
Weil es etwas zu verbergen gibt, drängt sich als Antwort auf, und weil man glaubt, Angriff – Projektion – wäre immer die beste Verteidigung. Dabei würde doch genügen, zu den eigenen Entscheidungen zu stehen (was nicht heißt, gleichzeitig für die derjenigen, auf die man sich verlassen hatte).
Da hatten wir doch erst kürzlich die Vertuschung der Missbrauchsbeschuldigungen in einem Wiener Kindergarten (oder waren es gar zwei?), von denen man längere Zeit nichts mehr erfahren hat – da liegt die neuerliche Unterstellung gezielter Geheimhaltung von Fehlverhalten nahe.
Aber kennen wir das nicht alle von uns selbst, wenn wir Angst vor Schande oder Bestrafung haben? Und: Wissen wir nicht auch, dass das ein Rückfall in kindliche Reaktionsmuster ist? Erwachsen handeln geht anders.
In der Bibel heißt es „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32). Nämlich frei von Angst. Fehler machen wir alle – nicht nur „die Anderen“. Und diese zuzugeben ist durchaus ehrenvoll – ebenso wie der Verzicht der Anderen auf Triumphgeheul, auch wenn diejenigen, die im Zustand der Schwäche sind, es den anderen entgegen den Tatsachen zu unterstellen versuchen.