Der hochangesehene Gerichtspsychiater Reinhard Haller schreibt in seinem aktualisierten Buch „Das Böse – Die Psychologie der menschlichen Destruktivität“ (ecowin 2021): „Schließlich setzt die Verwirklichung des Bösen die Missachtung des ,Moralinstinkts‘ voraus.“, und erklärt dazu, dass Moralinstinkt „die Einhaltung bestimmter sozialer Regeln, die für ein Zusammenleben von Menschen unabdingbar sind, ferner die Achtung der Rechte des anderen und die Eindämmung eigener egoistischer Ansprüche, vor allem aber die Verhinderung der Zerstörung menschlichen Lebens“ meine. Diese zentralen Maßstäbe der Moral sind global vergleichbar und keine Frage der jeweiligen Kultur (S. 216). Und dann mahnt er, es gehöre zu der Dynamik einer Gruppe, dass „Meinungen primitivisiert, Emotionen hochgeschaukelt und destruktive Kräfte in elementarer Form freigesetzt werden“.
Was Haller nicht schreibt, was aber viele entsetzte Menschen bei ihren Nächsten erleben, ist das, was ich den „Sog der virtuellen Masse“ nenne: Was sich in einer realen Gruppe durch „Ansteckung“ multipliziert, kann auch den einzelnen Fernsehsendungen sehenden, ja sogar „nur“ lesenden Menschen in die vermittelte „Stimmung“ versetzen (die, dank der bildgebenden Verfahren in der Gehirnforschung, naturwissenschaftlich nachweisbare Bildung von „Spiegelnervenzellen“) – außer er oder sie verfügt über eine präzise Selbstbeobachtung, merkt die emotionale Überflutung durch die Fremdenergie und beginnt mittels Vernunft diesen Verlauf zu kontrollieren.
Viele Frauen kennen das von unerwünschten sexuellen Kontaktnahmen und werden, wenn sie abwehren, als prüde oder frigide beschimpft – bekommen also noch eine weitere, radikalere Portion Fremdenergie aufgedrängt – oft bereits verbunden mit Drohungen (Ende nicht absehbar).
Ähnliches geschieht heute zwischen verschiedenen ideologischen Lagern, wenn eines dem anderen seinen Willen aufzwingen will (was ja als Ziel durchaus verstehbar ist), aber dazu nicht die Wege des Denkens, Redens, gemeinsamen Suchens und Findens von alternativen Problemlösungen beschreitet, sondern den Weg des Terrors, der Einschüchterung durch Verletzung der sozialen Regeln. Die geschichtlichen Parallelen sind beängstigend ident – denken wir nur an „SA marschiert“ – auch wenn die Massenveranstaltungen als Spaziergang verharmlost oder als Kunstprojekt getarnt werden.
In der systemischen Paartherapie gibt es einen Ansatz von „bis wann ging es gut – ab wann ging es schlecht“, um herauszufinden, wo die Bruchstelle der konkreten „Beziehung“ liegt.
Bei ideologischen Lagern wäre es ebenso einen Versuch wert, diesen markanten Zeitpunkt im Dialog dazu bereiter „Sprecher“ (egal welchen Geschlechts) herauszupflücken, anstatt wie in der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts die Unzufriedenen, Verbitterten und Wütenden um sich zu scharen und passiv zuzusehen, wie sich Anzeichen für einen lokalisierten Bürgerkrieg mehren.