Das Wort Sünde wird einer Lehrmeinung nach vom Wortstamm „sondern“ wie gesondert, absondern, absonderlich abgeleitet. Aus dieser Sicht bewirkt der biblische Sündenfall die Erkenntnis der Gegensätze, nicht nur von Gut und Böse, sondern von allem, weil alles aus Teilen zusammengesetzt ist. Wenn man diese wahrnimmt, besteht bereits die Verlockung in „richtig“ und „falsch“, in „entweder“ und „oder“ zu trennen und dann Krieg zu führen. Wir erleben das tagtäglich in der Politik.
Die politische verbale Kriegsführung – ausgedacht von Spin Doktoren, deren Elaborate dann im Parlament runter gelesen werden – man muss nur zusehen statt nur zuzuhören! – dominiert aber nicht nur die Aussagen der oppositionellen PolitikerInnen, sondern ebenso ihrer Anhängerschaft. Als ich noch SP-Mandatarin war (1973–1987) wurden wir geschult, in der Straßenbahn lautstark über den politischen Gegner verächtlich herzuziehen – heute findet das in den sozialen Medien statt. Mir wird regelmäßig ganz schlecht, wenn ich lese, wie Menschen anderer Gesinnung – vor allem die in der Regierung – nur voll Hass attackiert (und nicht sachlich kritisiert) werden. Es vergiftet meine Seele, denn ich bin berufsbedingt darauf trainiert, den Geist, die Energie zu spüren, in der etwas geäußert wird.
Es ist der Geist der Gewalt. Gewalt besteht darin, jemand anderem etwas aufzuzwingen, was der nicht will. Dazu wird – verharmlosend formuliert – Druck ausgeübt. (Auch Mord ist letztlich Druck – Druck der tötet, egal ob durch Hieb, Stich, Schlag etc.)
Genau das passiert jetzt: Es werden Menschen aufgefordert, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, obdachlos gewordene Flüchtlinge von Moria aufzunehmen. Zumindest in meiner Facebook-Echokammer war das heute der generelle Tenor der Postings mit nur wenig Widersprüchen.
Druck üben aber auch die Flüchtlinge auf der Insel Lesbos aus, indem sie sich weigern, dort in neue Lager zu ziehen. Sie wollen erzwingen, in andere Länder zu kommen. Druck haben auch die Flüchtlinge ausgeübt, die das Lager niedergebrannt haben – so wie bei uns von Haftinsassen aus diesen Ländern Gefängniszellen in Brand gesteckt wurden, um woanders hin zu kommen. Klare Fälle von Erpressung. Mentale Erpressung findet aber auch statt, wenn mit Schandfotos an das Gewissen derjenigen appelliert wird, aus Scham die Zumutungen zu erfüllen, die sich auf Grund der abgebildeten Tatsachen als erste Reaktion aufdrängen (oder aufgedrängt werden). Und genau das ist psychologische Kriegsführung.
Dazu zählt auch, relevante Tatsachen wegzulassen. Beispielsweise die gesamte Historie der Unterbringung von Flüchtlingen auf der Insel Lesbos; beispielsweise, welche Regierungsverantwortlichen welcher Länder welche Entscheidungen getroffen haben und aus welchen Motiven und mit welchen Zielen; beispielsweise, was unter „unbegleitete Minderjährige“ zu verstehen ist: putzige 6jährige wohl nicht – eher kampfbereite 16jährige Männer; beispielsweise das Recht auf Familiennachzug – deswegen werden ja die jungen Söhne von den Alten voraus geschickt.
Das alles abzuwägen braucht Vernunft und umfangreiche Kenntnisse – aber keine Emotionen, die vernebeln nur das Sachdenken samt Sicht auf die Folgen – und das alles zu bearbeiten braucht Zeit, um eine Lösung zu finden, die mehreren Aspekten gerecht wird (allen wird wohl nie gehen). Eine Regierung – ein Verwaltungskörper – gleicht nicht einer Familie, in der nur ein Patriarch entscheidet, ob man einen Verwandten im Haus aufnimmt oder nicht. Soll solch eine Entscheidung von den Eltern gemeinsam getroffen werden, wird es schon konfliktträchtig und braucht Zeit (und manchmal Mediation). Mich würde z. B. interessieren, wie die jeweils tägliche Agenda der befassten MinisterInnen seit dem Brand auf Moria ausgesehen hat.
Das Problem sehe ich – abgesehen von allfälligen rechtlichen Grundlagen – aber in der Gefahr der Spaltung in „Wir die Guten“ und alle, die nicht so denken, sind „die Bösen“. Hatten wir doch schon – und gar nicht so lange her?
Es gibt aber nicht nur zwei, sondern mehr Lösungen.
Mein Vater (geboren 1907) und seine Schwester (geboren 1909) waren als „Wiener Barn“ („Wiener Kinder“) vermutlich zu Ende des Ersten Weltkriegs (weil in ihrer Volksschulzeit) ein halbes Jahr in Dänemark in der Familie eines „Kaufhauskönigs“, gingen dort zu Schule, lernten Dänisch und Englisch (Deutsch konnten sie ja) und kehrten geistig bereichert und körperlich aufgepäppelt nach Wien zurück. Die Lösung bestand in der beschränkten Dauer – und darin, dass wirklich die Kinder im Mittelpunkt standen und nicht politisches Kleingeld für Oppositionspolitker und ihre Sympathisanten, Boulevard-Blätter mitgemeint.