Das Wort Störung lässt offen, wer sich wovon gestört fühlt.
Meist sind es nicht diejenigen, denen diese „Diagnose“ angeheftet wird, sondern Personen wie Lehrkräfte, Vorgesetzte oder Nachbarn, die nach Experten rufen, die die „Gestörten“ wieder „normalisieren“ sollen. In der psychoanalytischen Sozialtherapie – einer von den Psychoanalytikern Harald Picker, Max Kompein und Klaus Rückert in den 1970er Jahren entwickelte Methode zur Prävention wie auch friedfertigen Regelung von Konflikten im sozialen Feld, die ich auf Grund meiner fünffachen Psychotherapieausbildung zu „meiner“ PROvokativmethodik (ursprünglich PROvokativpädagogik für den Schulunterricht) weiter ausgebaut habe – lautet ein Grundsatz: Probleme nicht an Experten „weg zu delegieren“ sondern selbst so kompetent werden, dass man sofort, d. h. in der Situation und nicht erst Tage und Wochen oder gar Monate später, deeskalierend intervenieren kann.
Dieses Prinzip basiert auf den Sichtweisen des in Wien geborenen und in Lateinamerika (auch als Hochschulrektor) wirkenden Philosophen und römisch-katholischen Priesters Ivan Illich (1926–2006), der meinte, im Urwald des Amazonas brauche man keinen Dr. med. univ. sondern einen Sanitäter, der die wichtigsten lokalen Krankheiten zu behandeln wisse und den schnellsten Weg zum nächsten Krankenhaus kenne. In seinem wie auch Harald Pickers Gefolge habe ich aus allen meinen Ausbildungen und Praxiserfahrungen das jeweils Wesentliche herausgeschält und zu einer Gesamtschau verdichtet, die davon ausgeht, dass, a) wer gestört erscheint, irgendwann gestört, ja verstört wurde, b) man die eigenen Störungen erkennen und als Bausteine der eigenen Persönlichkeitswerdung anerkennen sollte, und c) danach entscheiden kann, welche davon man behalten (sozial unschädlich integrieren) will und welche verändern. Das kann man nämlich, wenn man weiß „how to do“.
Mir fällt z. B. immer öfter auf, dass sogar sogenannte psychosoziale oder juristische Fachleute sich angegriffen fühlen, wenn man ihnen harmlose Fragen stellt, ja sogar Drohungen heraushören, wo nur Klärungen beabsichtigt waren (mir auch erst unlängst passiert). In der Psychodiagnostik wäre das im breiten Spektrum von Paranoia (Verfolgungswahn) einzuordnen – aber dies auszusprechen wäre solch eine Kränkung (Attacke aufs Selbstwertgefühl), wie sie oft zu Beginn einer späteren Bluttat geschehen ist.
Während meines Altersstudiums der evangelischen Theologie absolvierte ich ein Seminar mit dem Titel „Das kann doch nicht ich gewesen sein!“ Genau darum geht es: Die gesellschaftliche Übung, die Selbstwahrnehmung auszublenden, wenn sie auf Störungen hinweist, aufzugeben und statt dessen dankbar anzunehmen, dass einem diese Erkenntnis geglückt ist, und danach daran zu arbeiten, sie zu beheben. Oft genügt es nämlich, nachzufragen „Wie meinen Sie das?“ oder, für ganz Mutige „Ich empfinde das jetzt als … haben Sie das so beabsichtigt?“