Wenn man Gewalttaten zu ihrem Ursprung zurück verfolgt, kann man erkennen: Die Wurzel der Gewalt ist der Vergleich. Deswegen bezeichne ich auch das Geschehen zwischen Kain und Abel als „zweiten Sündenfall“. Das Wort Sünde kann von sondern wie absondern abgeleitet werden. Der erste Sündenfall – die erste Absonderung – wäre demnach das Herausfallen aus der konfliktfreien „Ein-heit“ (metaphorisch als Garten Eden symbolisiert) in die zwei-geteilte Welt (gut und böse, hell und dunkel, bei Mann und Frau kann man die analoge Reihenfolge schon in Zweifel ziehen …), und im zweiten wird Einheit als Alleinsein hergestellt, indem derjenige, der stört, beseitigt wird. Genau das ist das Problem – der Umgang mit dem, bei dem etwas anders ist als bei einem selbst.
Es ist schon erschreckend, wenn heutzutage – am Ende der zweiten Dekade des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung – noch immer gleichgeschlechtlich liebende Männer, seltener Frauen, in „Konversionstherapien“ gezwungen werden, um ihnen den „Dämon der Homosexualität“ auszutreiben (https://www.youtube.com/watch?v=HZvGcvT0csc&feature=youtu.be). Wozu? Um nicht mit eigenen bigeschlechtlichen Tendenzen konfrontiert zu sein? Oder aus bevölkerungspolitischen Gründen – um in einer Zeit der Völkerwanderungen die „Mehreren“ zu sein? Oder um nicht in Verdacht zu geraten, vielleicht selbst …?
Im historischen Rückblick wurden Menschen, die nicht dem jeweiligen verordneten Ideal entsprachen, als Tagediebe, Sittenstrolche oder sonst wie Kriminelle verbal, sozial und oft sogar physisch gebrandmarkt – bis sich das durchsetzte, was Sigmund Freud als „Heilungsneurose“ titulierte: Man erklärt etwas als krank und setzt fast zwanghaft allen Ehrgeiz darein, es zu „heilen“. Dabei bedeutet heilen ja „ganz machen“ bzw. „werden“, und das heißt im Klartext, Abgespaltenes, Verdrängtes („Sündiges“) zu integrieren. In sich selbst wie in der Gesellschaft. Den Umweg über eine Krankheitsdiagnose könnte man sich eigentlich sparen – die GEMEINSAME Beantwortung der Frage nach einem ethisch richtigen Umgang müsste in einer reifen Gesellschaft genügen.
Derzeit beobachte ich, wie mit Diagnosen wie „Entwicklungsstörung“, „Bindungsdefizit“ oder „Autismus“ bzw. Abwertung als „Pseudo-Autismus“ junge Menschen stigmatisiert und ebenfalls Zwangsmaßnahmen unterworfen werden. (Dass das nicht fördernd sondern eher traumatisierend wirkt, ist wohl klar ersichtlich.) Dabei würde genügen einfach zu akzeptieren, dass manche Menschen – wie das „Hässliche kleine Entlein“ im Märchen von Hans Christian Andersen – lange brauchen, bis sie ihre „Schwäne“ gefunden haben, denen sie gleichen – und dass sie vorher eher Rückzug und Einsamkeit wählen, wenn sie merken, dass sie nicht „genau so“ sind wie die „Stinos“ (d. h. „Stinknormalen“, eine Bezeichnung aus der Wiener Subkultur).
Von dem Psychoanalytiker Fritz Riemann stammt die Kategorisierung in vier (Buchtitel) „Grundformen der Angst“: Menschen, die allein sein wollen gegenüber Menschen, die immer Nähe zu anderen brauchen, und Menschen, die sich in strukturierter Ordnung sicher fühlen und andere, denen Freiheit über alles geht und die gegen jede Einschränkung opponieren. Dass es Achtsamkeit und Wertschätzung und vor allem Verzicht auf Gewalthandlungen (Reden inbegriffen) braucht, um nicht zu kränken und krank zu machen, ist leider nicht Allgemeingut, auch nicht bei vielen sogenannten psychosozialen Profis. Denn es erhebt sich immer die Frage „Henne oder Ei?“, wenn etwas als störend bewertet wird: Wen hat was gestört und wer hat dann wen gestört?