Es gibt verschiedene Verschwiegenheitspflichten – und alle fordern die persönliche Ethik der damit Belasteten heraus: Zu wem soll man halten – zu den Klienten oder zur Gesellschaft? Zum Chef oder zu denjenigen, die durch ihn geschädigt werden (könnten)? (Dabei denke ich an Julian Assange oder Edward Snowden.) Zu den Nahestehenden, für die auch das Zeugnisentschlagungsrecht vor Gericht gilt oder zu den Gesetzen (wie unzulänglich oder veraltet die auch immer sein mögen)?
In der sogenannten „konventionellen“ Ethik folgt man einfach der Vorschrift – in der „postkonventionalen“ Ethik hingegen dem eigenen Gewissen, aber: Gewissen erfordert auch Gewissensprüfung, daher Seelenruhe und Kritik der eigenen Motive, vor allem aber auch Impulse.
Psychotherapeut*innen wie auch christliche Pfarrer*innen (von den „religiösen Experten“ – so der wissenschaftlich korrekte Sammelbegriff – anderer Konfessionen weiß ich es nicht so genau) sind durch Verschwiegenheitspflichten davor geschützt, zur Preisgabe von Geheimnissen ihrer Klient*innen gezwungen zu werden. Es würde Vertrauen zerstören – und die Möglichkeit, das Verantwortungsgefühl der Person zu stärken. Auch unbedachte Äußerungen im Erregungszustand zählen zu dem, was geheim bleiben soll – denn wenn das Gespräch erfolgreich geführt wurde, ist die Person nachher nicht mehr die, die sie vorher war, sondern ein besserer Mensch (und die Helferperson hoffentlich auch, nämlich verständnisvoller).
Wie leicht schimpft, flucht und droht jemand in der geschützten Situation des seelenentlastenden Gesprächs – gerade deswegen hat er oder sie ja „Narrenfreiheit“!!! Und welche Stolperfalle für die „beistehende“ Person vor Gericht oder Polizei (oder Untersuchungsausschuss), wenn sie den seinerzeitigen Wortlaut wiederholen sollte – denn dann würde die emotionale Befindlichkeit nicht berücksichtigt – ja sogar verboten, weil sie ja nicht authentisch wiedergegeben sondern nur subjektiv interpretiert werden kann. (Psycho-Berufsangehörige sind selten perfekt ausgebildete Schauspieler – und auch die schaffen „Echtheit“ nicht immer.)
Die Schwierigkeit besteht darin, dass nicht in allen psychotherapeutischen Schulen (wie auch Pfarrer-Ausbildungen) vermittelt wird, wie man „Energie bei sich behält“, d. h. nicht gleich spontan heraussprudelt, was einem emotional in den Sinn kommt. In meiner ersten psychotherapienahen Ausbildung (Psychoanalytische Sozialtherapie) brachte mir als damals noch schlichte Juristin der freudianische Grundsatz „Reflektieren – nicht agieren!“ wesentliche Erkenntnis, zeigte er doch deutlich, welche Fehler viele Erziehungspersonen machen, wenn sie glauben, Kinder und Jugendliche (und oft auch deren Eltern) „zusammenputzen“ zu müssen, damit klar ist, was nicht sein soll – und sie auf diese Weise „nachhaltig“ mundtot machen. (Das ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb sexuelle Misshandlungen so wenig angezeigt werden.)
Menschen, die sich nicht mundtot machen lassen wollen, sagen oft Sätze, die rein kognitiv aufgenommen, bedrohlich klingen – aber tiefenpsychologisch (nach Freud, Adler, Jung oder Milton Erickson) oder humanistisch (Rogers, Perls, Moreno) Ausgebildete hören mit dem „Dritten Ohr“ (© Theodor Reik) und entschlüsseln nach der Gefühlslage – Ärger, Zorn, Wut, meist aber Angst, Verzweiflung und Perspektivenlosigkeit – und wissen, dass die erste, „rote“ Gefühlsgruppe als Selbstheilungsversuche zu der zweiten, „dunkelgrauen“ zu verstehen ist.
Inkompetenz zeigt sich daran, dass man sich von den Gefühlen der Klient*innen anstecken lässt, Kompetenz hingegen dann, wenn man das aktuelle Gefühl anspricht – „Sie sind jetzt richtig wütend“ (dann kann der andere mit „Ja!“ zustimmen und damit einen Großteil des Gefühls „aus-drücken“) – oder indem man nachfragt „Meinen Sie das jetzt wirklich ernst?“ (Erfahrungsgemäß folgt dann Innehalten, Nachdenken und „Nein! Das war jetzt nur emotional gemeint.“ Diesen Satz habe ich übrigens das erste Mal von einer Richterin gehört, als eine Zeugin wild zu phantasieren begann.) PROvokativpädagogisch könnte man aber auch die Augen groß aufreißen und übertrieben erschreckt nach Luft schnappen „Aber das ist ja verboten!“ etc.
Genau diese Unterscheidung zwischen dem kühl berechnenden Plan und dem unbedachten heißen Gefühl ist aber wichtig, wenn man sich entscheidet, seine Verschwiegenheitspflicht zu brechen, weil man zu der Erkenntnis gelangt ist, dass hier wirklich Dritte geschützt werden müssen (oder jemand vor sich selbst) – und nicht nur man selbst, weil man sich damit bei Vorgesetzten oder Kolleg*innen (Wähler*innen) beliebt machen will – oder weil man einfach nur die Möglichkeiten kämpfen oder totstellen kennt und – noch – keine soziale Kreativität zur Findung / Erfindung dritter, vierter usw. Lösungen sein eigen nennt. Aber die kann man erlernen.