Mit großem Interesse habe ich die ORF-Berichterstattung vom niederösterreichischen SPÖ-Parteitag in Schwechat verfolgt – und war entsetzt. Da rief doch die designierte Parteivorsitzende und damit auch Oppositionsführerin Dr. med. Pamela Rendi-Wagner eine Kampfansage ins Publikum und nannte dabei die derzeitige Regierung „asozial“.
Damit kein Missverständnis entsteht: Mir ist klar, dass einige Regierungs-Vorhaben nicht dem entspricht, was die SPÖ als sozial bezeichnet wissen will – trägt sie doch das programmatische Wort in ihrem Namen: „sozial-demokratische“ Partei. (In der Zeit, als ich Mandatarin der SPÖ war, hieß sie noch „sozialistische“ Partei Österreichs.) Auch die Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) beanspruchte diese Bezeichnung für sich. Allerdings besteht ein Unterschied, wenn einem Begriff die Endsilbe „-istisch“ angefügt wird: Dann will man auf eine Steigerung, Übertreibung oder Verzerrung hinweisen. Biologisch ist beispielsweise etwas anderes als biologistisch. Und auch zwischen human und humanistisch besteht solch eine Differenzierung.
Wenn sich daher eine Partei beispielsweise als christlich-sozial bezeichnet, ist das eine andere Selbstdarstellung als würde sie sich christlich-sozialistisch nennen … und dann kann man überprüfen, wie weit ihre Programme und Handlungen der christlichen Soziallehre entsprechen. Das setzt allerdings einen Dialog voraus (der dringlich und sinnvoll wäre) – nicht aber einseitige Etikettierungen.
Nun hat die habilitierte Fachmedizinerin Rendi-Wagner den Begriff „asozial“ gebraucht – und der ist eine sozialtherapeutische Diagnose, die man heute vermeidet, weil sie ist historisch belastet ist: In der Zeit des Nationalsozialismus wurden manche Personen damit willkürlich als „Volksschädlinge“ bezeichnet und ins KZ gesteckt, wo sie durch den schwarzen Winkel gekennzeichnet wurden. Wie meine Kollegin, die Psychotherapeutin und Historikerin Gertrude Baumgartner in dem von mir 1992 herausgegebenen Buch „Menschenjagd“ nachgewiesen hat, fielen darunter etwa auch Frauen, die an heißen Sommertagen ihrem Arbeitsplatz fernblieben und sich an der Alten Donau einen schönen Tag machen wollten. Und Straftäter, Prostituierte, Alkoholabhängige, ja sogar Heimzöglinge.
Demgegenüber ist „antisozial“ eine psychotherapeutische Diagnose, weil (gegenwärtig) als krank oder gestört definiert wird, wenn sich jemand permanent nicht an Regeln hält oder auch sonst Schuldbewusstsein oder Einfühlungsvermögen vermissen lässt (was übrigens zuzunehmen scheint).
Auch das Ersatzwort „dissozial“ (für beide Phänomene) ist politisch nicht korrekt – denn, wie schon der Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) formulierte: Was diesseits der Pyrenäen Wahrheit sei, sei jenseits Irrtum (oder anders gedeutet: diesseits ein Freiheitsheld – jenseits ein Verbrecher). Deswegen gebrauche ich möglichst die Formulierung „sozial unerwünscht“ (anstatt krank, kriminell, sündig, dumm … oder eben auch asozial, antisozial oder dissozial, ja sogar unsozial) um die juristisch-medizinische Relativität wie auch den persönlichen Bezug von Bewertungen zu verdeutlichen, und nicht Menschen oder Gruppen zu diskriminieren, die eher Hilfe brauchen als Verachtung. Aber letzteres ist offenbar das Ziel gewesen …?
Nachdem aus der ORF-Berichterstattung ersichtlich war, dass die beiden Hauptredenden vor sich liegende Redevorlagen benutzten, appelliere ich an sie, sie mögen ihre Spindoktoren anweisen, in Zukunft derart menschenverachtende Bezeichnungen zu vermeiden. Die sind nämlich weder sozial noch sozialistisch.