Rotraud A. Perner


Ursprünglich erschienen in:
Die Furche: 15-10-2015

 

Immer wenn ein Gewalttäter blindwütig Menschen niederschlachtet, folgt der Ruf nach schärferen Waffengesetzen. Ich nenne das „Dornröschen-Syndrom“: Man wähnt mit dem Verbot der Mittel – der Spindeln – bereits die Zielverwirklichung – den Stich zum hundertjährigen Schlaf – verhindern zu können.

Das mag teilweise für die tragischen Tötungen stimmen, wenn ein Kind mit Vaters Schießeisen herumgeballert hat … aber auch dieser Täter ahmt nur nach, was er oder sie anderswo gesehen hat: Wenn man Wut gegen jemand empfindet, schießt man auf ihn, egal ob mit einer Schusswaffe oder der Schreibfeder oder auch dem gesprochenen Wort.

Der Ursprung der Gewalt besteht in Wut und Hass – auf einzelne Personen oder Menschen überhaupt. Man hasst die Menschen, die nicht so sind wie man sie haben will. Unterwürfig etwa, unterlegen – oder einfach „menschlich“. Liebevoll.

Analysiert man die zwischenzeitlich zahlreich nachgeahmten sogenannten School Shootings – oder auch die schulunabhängige Workplace Violence mittels Schusswaffen – so findet man als Urszene zuerst reale, später in Folge neurotisch verankerte verbale Demütigungen. Neurotisch bedeutet in meinem Sprachgebrauch nicht psychische „Krankheit“ sondern erlittene Verletzung, die in neuronalen Verschaltungen verankert ist und durch ursprungsähnliche Trigger, das sind Auslösereize, wiederbelebt werden – sofern man nicht bewusst Gegenreaktionen eingeübt und damit zur Verfügung hat.

Gewaltprävention ist ein Bildungsproblem!

Alles Lernen besteht aus bewusstem oder unbewusstem Einüben von Verhaltensmodellen und dem Erfolg der Anerkennung bei „Repetition“. Dieses Wort besitzt Mehrfachsinn: es weist nicht nur auf die Möglichkeit des Wiederholens von Prüfungsaufgaben hin (was leider vielfach als Strafe statt als Chance vermittelt wird, weshalb die Bemühungen um Beseitigung dieser Usance, vor allem auch deren Begründungen, sehr kritisch betrachtet werden sollten) sondern ebenso auf die Wirksamkeit der mehrmaligen Schussabgabe schnell nacheinander. Beide Phänomene beinhalten die Entscheidungsmacht „Stärkerer“ – Lehr- oder Erziehungsbeauftragter wie auch derjenigen, die die Gewaltmonopole des Staates ausüben dürfen. Man muss nur lange genug in Sprache oder Körpersprache repetieren, dass man den anderen nicht mag, nicht einer Antwort würdigt, von Gemeinschaftlichkeit ausschließt oder mobbt, bloßstellt oder durch Übersehen demütigt … irgendwann werden die letzten Selbstbehauptungskräfte so stark spürbar werden, dass sich die klein gemachte Person wird wehren wollen bzw. müssen um nicht ganz unterzugehen. Und genau da stehen wir heute anderen Vorbildern gegenüber als unsere Vorgenerationen. „Aber ich muss doch dem/ der sagen, was nicht in Ordnung ist!“ protestieren dann Eltern, Lehrkräfte oder Vorgesetzte, wenn man ihnen erklärt, dass viele Formen von Gewalt Folgen ihrer Abwertungen darstellen. Grenzen setzen ist schon wichtig – es kommt aber auf die Art an, wie das geschieht, und zwar nicht nur auf die jeweilige Formulierung sondern vor allem auf die Sinngebung, die nonverbal „verkörpert“ wird.

Gewalttaten entspringen nicht einer einmaligen Spontanerregung. Sie wachsen langsam und meist verborgen im „Schatten“ eines anderen Gewalttäters, in dessen Verhalten man mit der Zeit hineinschlüpft, weil dies der einzige sichere Ort scheint. Man kann das durchaus als Gehirnwäsche bezeichnen: Es wird die Mentalität des Siegers, der über Leichen geht, vermittelt – nicht nur von den Action-Helden auf den Bildschirmen, sondern von all den Tyrannen und Tyranninnen, die ihren Willen um jeden Preis – auch den des Seelenmordes – durchsetzen wollen.

Strengere Waffengesetze sind dort sinnvoll, wenn sie deren Erwerb durch psychisch labile Personen erschweren (was daher „repetitiv“ geprüft werden müsste). Gewalttaten verhindern können sie nicht – auch nicht die zielgerichtete Gewalt an Schulen oder anderen Arbeitsplätzen, wo man sich doch so leicht Anleitungen zum Bombenbasteln aus dem Internet herunterladen kann.

Viel zielführender wäre die Vermittlung von Wissen über psychische Reaktionen auf Selbstwert schädigendes Verhalten (oft eine Form von Hochstress) und die Vermittlung von Stressbewältigungsmethoden. Diese könnten sowohl im Biologieunterricht als auch in allen (!) anderen Fächern, vor allem auch in der einstmals zu Recht so genannten Leibeserziehung – die nämlich mehr umfassen sollten als nur „Bewegung und Sport“! – stattfinden.

Nur was man kennt, kann man auch kontrollieren und beherrschen, daher gilt es vor allem, sich selbst zu kennen. Menschlichkeit – Humanität – ist eine Kulturleistung, deswegen braucht man dafür Vorbild und Anleitung, was bedeutet: Eltern, Lehrkräfte, Vorgesetzte, die selbst fähig sind, auf Hass- und Racheaktionen zu verzichten und stattdessen ihre Beziehungsfähigkeit im respektvollen Bearbeiten von unerwünschten Vorkommnissen unter Beweis stellen können. Der Wiener Kinderschutzexperte Holger Eich schrieb einstmals in einem Editorial der Zeitschrift „Aufrisse“, nicht jeder, der das Wort Rosa Luxemburgs im Munde führe, vertrete auch ihren Geist. Analog kann man betrübt feststellen, dass auch nicht alle, die Martin Buber und seine Plädoyers für dialogischen Umgang vom Ich zum Du zitieren, dessen Geist verinnerlicht haben.

Hass – aber ebenso Angst – verengt: nicht nur die Sichtweise sondern auch die Atmung und die Herzkrankgefäße. Man wird selbst zur Waffe. Das Gegenmittel gegen Angst und Hass – denn dieser kann meist die Folge von jener entdeckt werden – ist Herzoffenheit, Interesse, Verständnis und Geduld. Dafür sollten alle pädagogischen Berufe ausgebildet werden – und dafür sollte es auch massenmediale Anleitungen für alle Menschen geben, denn jeder Mensch liefert ein Vorbild – ob er oder sie sich dessen bewusst ist oder nicht. Das heißt für mich Bildungsreform – und nicht eine ideologisch oder ökonomisch motivierte Verwaltungsreform, wie sie derzeit benannt wird,  quasi in  einer Mogelpackung.